Von Heidenheim nach Nördlingen
„Eine Niete ist immer dabei“, pflegt ein guter, radlerfahrener Kollege immer zu sagen. Meine Laune geht heute Morgen gegen Null. Mein Hotel liegt in der Innenstadt von Heidenheim, was per se gut und gewollt ist. Dass bis weit nach Mitternacht direkt vor meinem Fenster die Poser tösen und Jallah-Jallah-Rap aus offenen, schwarzen BMWs dröhnt, ist nicht gut und eine Zumutung. Man darf es nicht sagen, ich tue es trotzdem. Die adrenalingestörten Neubürger hängen hier überall in Gruppen junger Männer ab. Geht man durch die Stadt, wird man ständig beobachtet. Als ich kurz die Hauptstraße verlasse, kommt mir gleich ein zugedröhnter Mittelmeer-Geschädigter entgegen und labert mich voll. Sehr unangenehm und weit entfernt von Urlaubsstimmung.
Immerhin entspinnt sich heute morgen in meinem vom Besitzer eines türkischen Schnellimbiss geführten Hotel eine angeregte Unterhaltung auf höchstmöglichem Niveau:
„Du Fahrrad?
„Ja“
„Spazieren?“
„Nein Nördlingen“
„Oh, weit“
„Ja“
Ich will mich in dem Land, in dem ich lebe, einfach anders unterhalten. Ist das zu viel verlangt? Mein Fahrrad steht in einer verschlossenen Garage und niemand versteht mich, als ich darum bitte, aufzuschließen. Gerade als ich drohe, die Contenance zu verlieren, kommt der Chef.
„Hier Schlüssel.“
„Danke, tschüss“
Ich verlasse Heidenheim, nicht ohne 2 Mal von einem Aggro-Audi geschnitten zu werden. Was stimmt hier nicht? Ich fürchte, ich kenne die Antwort.
Lange fahre ich durch Wald und Felder, steil bergauf und bergab. Schließlich muss ja auch der Kraterrand des Nördlinger Ries überquert werden. Die Anstrengung und die frische Luft tun mir gut. Es gibt kaum Infrastruktur in dem dünn besiedelten Härtsfeld auf der Ostalb.
Schließlich komme ich nach Neresheim. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich von dem Ort vor dieser Tour noch nie etwas gehört hatte. Schade eigentlich. Der Ort an sich ist sicher einer von vielen, die dortige Benediktinerabtei nicht. Schon von Weitem erkennt man die große Anlage auf dem Ulrichsberg.
Die Kirche ist ein Spätwerk von Balthasar Neumann. Wer in einem Gymnasium in Hof an der Saale war, so wie ich, kennt den Herrn natürlich. Hat er doch im Norden Bayerns ganz viel Eindrucksvolles wie die Residenz in Würzburg und die Basilika Vierzehnheiligen und v.m. geschaffen. Jährliche Schulausflüge führten nie an ihm, einem der bekanntesten Baumeister des Barock, vorbei. Die Abteikirche wird als „erschütternd großartig“ bezeichnet und zählt zu den bedeutendsten Kirchenbauten des Spätbarock. Ich bin gespannt.
Ich werde nicht enttäuscht. Ich bin mal wieder ganz allein in der Kirche. Die Deckenbemalung ist wirklich eindrucksvoll.
Hier sind alle gleich.
Die Äbte sind gleicher.
Ich möchte dem Tipp jenes guten Kollegen, 2 besondere Orte zu besuchen, folgen. Daher biege ich ein paar Kilometer vor Nördlingen von der Route ab.
Richtig gute Tipps sind die, die noch viel bessere nach sich ziehen. So auch heute. Unmittelbar hinter der ersten Kurve nach dem Abbiegen, rechts, eine Bäckerei. Davor ein Schild: „Heute warmer Leberkäse“.
Es folgt eine Vollbremsung bis die Scheiben glühen.
An dem einzigen Tisch vor der Bäckerei sitzt ein Leberkäsebrötchen mampfender Radler, der mich sofort an seinen Tisch winkt. Anscheinend ein Frauenversteher! Schnell mampfen wir gemeinsam.
Als ich auf die obligatorische Wo-kommste-her-Frage „aus Heidenheim“ antworte, sind wir sofort in eine „Das darf man eigentlich nicht sagen“-Unterhaltung vertieft. Wir sind uns in allen Punkten einig, auch darin, dass man es irgendwann sagen MUSS.
Später stellt sich heraus, dass ich mit einem der beiden Türmer von Nördlingen am Tisch sitze, also mit einer der bekanntesten Persönlichkeiten der Stadt, den sicher jeder Nördlinger/in kennt.
Er ist der, der immer vom Turm in der Nördlinger Altstadt „So Gsell so“ ruft, aber jetzt im Urlaub ist. Wie cool ist das denn! Die Geschichte geht so:
Man sagt, 1440 wollte eine Frau am Abend für ihren Mann eine Kanne Bier besorgen. Am Löpsinger Tor beobachtete sie, wie eine entlaufene Sau ihr Hinterteil an einem Torflügel rieb. Dabei entdeckte sie, dass das Tor nicht fest verschlossen war. Ihr empörter Ruf „So, G‘sell, so!“ galt den treulosen Wächtern. Diese gestanden, vom Oettinger Grafen bestochen worden zu sein, in der Nacht das Tor nur angelehnt zu lassen, damit der Graf mit seiner bewaffneten Schar die Stadt erobern könne. So hatte eine Sau Nördlingen gerettet. Keiner weiß, ob es so gewesen ist. Wahr ist aber, dass 1440 zwei Torwächter wegen Verrats hingerichtet wurden.
Seit dem rufen die Türmer jeden Abend „So, G‘sell, so!“ vom Turm, um die Stadt zu sichern.
Viel erzählt er mir von seinem Beruf und wir ordnen auch noch ein bisschen die Welt neu. Die Bäckersfrau muss uns zu ihrer Mittagspause rauswerfen, so nett ist es.
Ich fahre weiter zu meinem Tipp und der Türmer türmt auch ( 🙈 oh weh- Flachwitz)
Zuerst radle ich durch das burgengesäumte Kartäusertal nach Christgarten zu einer ehemaligen Mönchsklause der Kartäuser. Das sind ja die ganz Strengen, die ganz abgeschieden leben.
Dann geht es zu einer Gedenkstätte für den 30-jährigen Krieg auf dem Albuch, wo die Schlacht von Nördlingen, eine der größten Schlachten dieses Krieges, verloren wurde.
Warum spanische Tercios ihre Schmierereien hier hinterlassen müssen, erschließt sich mir wieder mal nicht.
Von dort hat man einen wunderbaren Blick über das komplette Ries.
Steil geht es hinunter nach Nördlingen. Liegt die Stadt doch am Grund eines vor 15 Mio. Jahren durch einen Asteroideneinschlag entstandenen kreisrunden Kraters mit 20-25 km Durchmesser..
Nördlingen hat eine komplett erhaltene Stadtmauer von 2,7 km und man kann herumspazieren.
Alle Stadttore sind erhalten/renoviert und die Altstadt ist ganz zauberhaft, besonders das Gerber- und Färberviertel.
Sehr stolz ist man auf Gerd Müller, der hier geboren ist.
Der Arbeitsplatz des Türmers.
Ich bin angekommen und ergattere eine Liege im „Wohnzimmer“ von Nördlingen, auf der ich lange verweile und die 8 Tage der Tour Revue passieren lasse. Das hab ich verdient.
Natürlich soll es auch noch ein Fazit geben.
440 km mit vielen Höhenmetern durch Mittelgebirgslandschaft. Ich bin auf grandiosen Radwegen an der Donau, an der Lauter und im Lonetal geradelt. Es gab jeden Tag mindestens ein Highlight, was mir ein „Wow“ entlockt hat und ich habe die Feinheiten meines Heimatlandes wieder ein bisschen besser kennengelernt. Radelt man die Tour mit Gepäck, ist sie echt anstrengend und ich war immer wieder heilfroh, dass mein Radl einen Motor hat. Die Strecken waren mit 50-70 km relativ kurz, aber absolut ausreichend für das Gelände und den Untergrund. Die Streckenführung war toll, aber beim nächsten Mal mache ich einen ganz großen Bogen um Heidenheim.
Schön war’s und die Deutsche Bahn braucht für meine Heimreise diesmal nur 5 Stunden.